Lebensweites Englischlernen – nicht erst jetzt

Jugendlicher am PC
(c) Kelly Sikkema on Unsplash

Heutzutage ist es im Englischunterricht gar nicht ungewöhnlich, dass eine 16-Jährige mit perfektem amerikanischem Akzent spricht, obwohl sie noch nie in Amerika war, oder einen der 13-Jährige skeptisch ansieht, während man ein neues Vokabel erklärt, denn in seinem Computerspiel „heißt das fix was anderes!“ Anekdoten wie diese können viele Englischlehrer*innen aus unterschiedlichsten Schultypen der Sekundarstufe erzählen und auf die Frage, woher dieses Phänomen käme, lautet die Antwort meist YouTube oder Netflix, Instagram oder 9Gag, CounterStrike oder Game of Thrones.

Informelles Sprachenlernen – ein neues Forschungsfeld

Man kann die Antwort aber auch außerschulisches (Sprachen)lernen1 nennen, informal (digital) learning2 oder extramural English3. Diese Begriffe bezeichnen ein neues Forschungsgebiet, dessen Entstehung mit Beginn der 2000er Jahre an Fahrt aufgenommen hat und zu dem mittlerweile in vielen europäischen Staaten Untersuchungen vorliegen. Klarerweise ist informeller Spracherwerb nicht auf Englisch beschränkt, die weltweit gebräuchliche Lingua Franca nimmt aber sicherlich eine besondere Stellung ein, da vieles in englischer Originalsprache produziert wird und Englisch derzeit (noch) die vorherrschende Sprache des Internets ist

Extramural English in Österreich

Auch in Österreich gibt es mittlerweile Forschung zu extramural English und informellem Spracherwerb– von kleinen Projekten in der Volksschule4 über Arbeiten zur Sekundarstufe56 bis in den tertiären Bereich78. Meine Dissertation mit dem Titel „Beyond the walls: A mixed methods study of teenagers’ extramural English practices and their vocabulary knowledge“9 ist die erste größere Studie im Bereich der AHS, die den Zusammenhang zwischen außerschulischer Beschäftigung mit Englisch und dem Wortschatzerwerb untersucht und darüber hinaus versucht, die Perspektive von der Schüler*innen miteinzubeziehen.

Ergebnisse

Über 200 Wiener AHS Schüler*innen der 10. Schulstufe nahmen an dem Projekt teil, in dem quantitative Methoden wie Vokabeltests und Fragebögen mit qualitativen Gruppeninterviews kombiniert wurden. Ausgewählte Ergebnisse zeigen, dass …

  • 96% aller befragten 15-/16-Jährigen beinahe täglich außerhalb des Unterrichts in Kontakt mit Englisch kommen
  • Musik, „Online TV“ in Form von Videoclips, Filmen und Serien, sowie soziale Medien die häufigsten Kontaktpunkte mit Englisch sind
  • Wiener Schüler*innen im Durschnitt etwa 4 Stunden ihrer Freizeit täglich mit Englisch verbringen (inklusive Wochenenden)
  • eine große Mehrheit der interviewten Teilnehmer*innen die außerschulische Beschäftigung mit Englisch als hilfreich für den Spracherwerb ansieht
  • die Schüler*innen großteils den Schulunterricht als Fundament für ihre außerschulische Beschäftigung mit Englisch verstehen

Die Schule und außerschulischer Spracherwerb

Und was macht die Schule mit dem Phänomen des außerschulischen Englischerwerbs und der stark veränderten Unterrichtssituation? Diese Frage stellt sich mir in meiner zweiten Rolle als Englischlehrerin an einer AHS. Eine Antwort, die ich in Analogie zum lebenslangen Lernen schön finde, ist das lebensweite Lernen (lifewide learning10: die Erkenntnis aller Beteiligten, der Schüler*innen, Lehrer*innen, Eltern und politischen Entscheidungsträger*innen, dass (Sprachen)lernen schon von jeher und ganz besonders im 21. Jahrhundert in allen Lebensbereichen stattfindet – und zwar nicht nur während des derzeitigen Fernunterrichts.

Würden wir lebensweites Lernen als eine Realität anerkennen, wäre schon ein großer erster Schritt getan. Natürlich gibt es aber große Unterschiede zwischen den Lerner*innen in Bezug auf die Qualität und Quantität ihrer außerschulischen Beschäftigung mit Englisch und anderen Sprachen. Zusätzlich sind noch viele Fragen offen in Bezug auf eine pädagogisch-didaktische Unterstützung und eine vorsichtige Anbindung des informellen Lernens in formelle Schul- und Bildungskontexte. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden…

Marlene Schwarz ist Englischlehrerin an einer Wiener AHS und externe Lektorin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien. Sie hat vor kurzem ihre Dissertation zur Beschäftigung mit außerschulischem Englisch unter Wiener Jugendlichen abgeschlossen.
Die Autorin ist erweitertes Mitglied der Forschungsplattform #YouthMediaLife.

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  1. Caspari, Daniela. 2015. Schulisches und außerschulisches Lernen verbinden: Eine (alt-)bekannte Forderung als aktuelle Herausforderung. In Eva Burwitz-Melzer, Frank G. Königs und Claudia Riemer (eds.), Lernen an allen Orten? Die Rolle der Lernorte beim Lehren und Lernen. Tübingen: Narr Verlag, 29–37.
  2. Lee, Ju S. and Dressman, Mark. 2018. When IDLE hands make an English workshop: Informal digital learning of English and language proficiency. TESOL Quarterly 52(2), 435–445.
  3. Sundqvist, Pia. 2009. Extramural English matters: Out-of-school English and its impact on Swedish ninth graders‘ oral proficiency and vocabulary. Karlstad: Karlstad University, PhD thesis.
  4. Wieland, Alexandra. 2016. Extramural English – Eine Untersuchung zur Wirkung von außerschulischem Fremdsprachenerwerb. Salzburg: PH Salzburg, BA thesis.
  5. Hahn, Magdalena. 2018. Extramural vocabulary acquisition: A survey of students in Viennese vocational business middle schools (HAS). Vienna English Working Papers (VIEWS) 27, 1–21.
  6. Schurz, Alexandra. In Vorbereitung. From Classroom to Home: Blurred borders between these learning environments and the impact on automatized and explicit knowledge. Wien: Universität Wien, Dissertation.
  7. Miglbauer, Marlene. 2017. Students‘ extramural English as a resource for fostering language skills and digital competencies in tertiary language education. Krems: Donau Universität Krems, MA thesis.
  8. Trinder, Ruth. 2017. Informal and deliberate learning with new technologies. ELT Journal 71(4), 401–412.
  9. Schwarz, Marlene. 2020. Beyond the walls: A mixed methods study of teenagers’ extramural English practices and their vocabulary knowledge. Wien: Universität Wien, Dissertation.
  10. Banks, James A.; Au, Kathryn H.; Ball, Arnetha F.; Bell, Philip; Gordon, Edmund W.; Gutiérrez, Kris D.; Brice Heath, Shirley; Lee, Carol D.; Lee, Yuhshi; Mahiri, Jabari; Nasir, Na’ilah S.; Valdés, Guadalupe and Zhou, Min. 2007. Learning in and out of school in diverse environments: Life-long, life-wide, life-deep. Seattle: The Learning in Informal and Formal Environments Center (The LIFE Center) and Center for Multicultural Education. http://www.life-slc.org/ (27 June, 2019).

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