Im ersten Teil dieses Blogposts wurde das Phänomen „Fan-Aktivismus“ erklärt und in seiner Vielfalt durch einige Beispiele näher betrachtet. Nun soll es um das Potenzial gehen, welches Fan-Aktivismus meiner Ansicht nach im Klassenzimmer entfalten könnte.
Ein Phänomen – viele pädagogisch wertvolle Konzepte
Fandoms besitzen aufgrund ihrer Struktur und ihrer Praktiken inhärente Mechanismen des Lernens und der Solidarität, weil in einer Fangemeinde z.B. Fanfiction von anderen korrekturgelesen wird, bestärkendes Feedback auf Fan Art gegeben wird, oder Ressourcen von erfahrenen Mitgliedern an Neulinge weitergegeben werden (Kligler-Vilenchik et al. 2012, 5.2)1. Aber nicht nur das: nach Andrew Slack, Gründer der Harry Potter Alliance, kommt bei Fan-Aktivismus der Prozess einer sogenannten „kulturellen Akupunktur“ zum Tragen, womit gemeint ist, dass „psychologische Energie“ in der (Pop-)Kultur gefunden wird, und diese Energie darauf gerichtet wird, eine „gesündere“ Welt zu erschaffen (2010)2. Jenkins hat diese Idee als den Prozess des Übertragens von Elementen aus fiktiven Story-Welten auf die Probleme der echten Welt, um diese dadurch besser zu verstehen und kreative Lösungsansätze zu finden, erklärt (2012)3.
Des Weiteren involviert und fördert Fan-Aktivismus laut Jenkins et al. (2020) eine Art gesellschaftliche Vorstellungskraft oder, im Originalausdruck, „Civic Imagination“: die Kapazität, sich Alternativen zu den gegenwärtigen sozialen, politischen und ökonomischen Zuständen vorstellen zu können — die Möglichkeit, sich eine andere Welt zu denken als die aktuelle4. Fans fragen sich oft und in vielen Zusammenhängen „Was wäre wenn?“ (siehe Duncombe 20125; Carriere 20186). Was, wenn Harry Potter in seinem 3. Jahr von einem Werwolf gebissen worden wäre? Fans schreiben sogenannte „Fanfiction“, in der sie dieses Szenario für interessierte Leser*innen aufbereiten. Was, wenn alle Avengers plötzlich in Babys verwandelt würden? Es gibt Fan Art von talentierten Zeichner*innen, die sich diesem Thema widmet. Was, wenn Figuren aus einer Anime-Serie plötzlich menschlich würden? Es gibt „Cosplayer*innen“ [verbunden aus den Wörtern „Costume“ und „Play“], also Fans, die diese Frage durch die aufwändigsten Kostüme beantworten. Fan-Spaces sind Räume scheinbar grenzenloser Kreativität. Fan-Aktivismus nutzt diese Eigenschaft, um andere „Was wäre wenn — Fragen“ zu stellen: Was wäre, wenn alle Menschen genug zu essen hätten? Was, wenn niemand wegen seiner ethnischen, religiösen Zugehörigkeit oder sexuellen Orientierung verfolgt würde? Was wäre, wenn wir Wohlstand schaffen könnten, ohne dafür die Ressourcen unseres Planeten zu erschöpfen?
Jugendliche in Fangemeinschaften
Fandoms sind Räume für Ideen, des Spielerischen; es sind Communities, die sich schon sehr früh mit den Möglichkeiten der „neuen“ Medien auseinandergesetzt haben und gemeinsam mit ihren Mitgliedern gelernt haben, diese produktiv zu nutzen (Kligler-Vilenchik 2016, 107)7. Und es sind Räume, in denen gerade junge Menschen sich als wirksame und vollwertige Mitglieder einer Gemeinschaft erfahren können, denn sie punkten mit Expertise und Ressourcen, die in diesen Communities ernst genommen werden. Im Fan-Aktivismus wird die affektive Bindung zu, und die weitreichende (oftmals zeitintensive) Beschäftigung mit einem Buch, Film, Sport, Musiker*innen, einer TV Serie, oder einem Videospiel genutzt, um die großen gesellschaftlichen Fragen und Herausforderungen unserer Zeit zugänglich zu machen.
Gerade wenn Jugendliche vorher noch nie durch ihr familiäres Umfeld oder ihre Peers in bürgerrechtliche, politische, ehrenamtliche oder aktivistische Praktiken eingebunden wurden, gerade wenn ihnen vielerorts vorgeworfen wird, noch zu jung oder naiv zu sein, um sich eine Meinung zu bilden und ihnen, beispielsweise in den Kommentarfeldern unter einem Fridays-for-Future Zeitungsartikel, zahlreiche User*innen die Berechtigung zur politischen Teilhabe einfach absprechen, bilden die Möglichkeiten des Fan-Aktivismus ein wichtiges Gegengewicht.
Fandom & Pädagogik
Mir fiel auf, wie viele der Fallstudien und Fachzeitschriftenartikel aus den Fanstudien bereits Andeutungen zum inhärenten pädagogischem Potenzial machen. Neta Kligler-Vilenchik (2016, 113) beschreibt Fan-Aktivismus als „training ground“, mithilfe dessen junge Menschen in die politische Sphäre eingeführt werden und sich das notwendige Rüstzeug aneignen können, um als autonome Bürger*innen für das einzutreten, was ihnen wichtig ist. Der internationale und von der EU geförderte Online Lehrgang “Global education Goes POP”8, bei dem es darum geht, Jugendlichen globale Themen und nachhaltige Entwicklungsziele anhand von Popkultur näherzubringen, hat das Potenzial erkannt und liefert mit seinem Methodenhandbuch9 für die Jugendarbeit wichtige praktische Ansätze für dessen Verwirklichung. Auch Lehrende an den Universitäten haben das Potenzial der Fanstudien für ihren Unterricht erkannt, so erklärt beispielsweise der Professor für Medienwissenschaften an der Universität in Chicago, Paul Booth, Fandom zum „Klassenzimmer der Zukunft“10 (2015).
Ich stehe mit meiner Dissertation noch ganz am Anfang und vor einer Fülle unbeantworteter Fragen, z.B.: Welche Möglichkeiten bietet Fan-Aktivismus, dieses „Klassenzimmer der Zukunft“ zu transformieren? Welche Rahmenbedingungen gilt es in unserem Schulsystem zu beachten? Wie funktioniert die Übertragung von Text auf reale Welt und inwiefern kann eine Beleuchtung genau dieser Prozesse, beispielsweise im Literaturunterricht, förderlich sein? Eignet sich hier Fantasy besser als realistische Erzählungen, und wenn ja, warum? Welche Verbindungen zu und Einbettungen in Fandoms bestehen bereits in österreichischen Klassenzimmern und wie steht es mit Attitüden seitens der Lehrer*innen und Schüler*innen in Bezug auf die Verbindung von Populärkultur mit politischen/aktivistischen Themen? Besteht das Risiko, dass Fan Communities auch für die „falschen“ (z.B. extremistische) Zwecke mobilisiert werden können? Wer könnte hier eine Unterscheidung vornehmen und wie gehe ich als Lehrerin mit dieser potentiellen „Kehrseite“ des Fan-Aktivismus um?
Ausblick
Was ich weiß ist, dass ich mit meiner Arbeit auch gängige Klischees hinterfragen will. Digitale Medien und Möglichkeiten der Vernetzung machen uns nicht notwendigerweise faul und asozial, müssen nicht im Widerspruch zur Liebe für ein gutes Buch stehen. Jugendliche, die viel Zeit in den fiktiven Welten eines Fantasyromans oder Computerspiels verbringen, bewegen sich deswegen nicht zwangsläufig eskapistisch an den Problemen der echten Welt vorbei, im Gegenteil, sie können damit an Fragen ihrer Gegenwart und Zukunft anknüpfen.
Ein Text „geht“ weiter. Lange nachdem ein*e Autor*in die letzte Zeile zu Papier gebracht, ein*e Comiczeichner*in das letzte Panel gestaltet hat oder der Abspann zum Film gelaufen ist. Narrative Konstruktionen leben in unseren Köpfen. Sie entwickeln sich. Verändern sich, verändern uns. Vielleicht können sie uns ja sogar helfen, unsere Welt zu verändern.
Ariane Manutscheri ist Doktoratsstudentin im Bereich der English and American Studies. Im April 2020 schloss sie ihr Lehramtsstudium in den Fächern Englisch und Psychologie/Philosophie ab. Bereits in der dazugehörigen Diplomarbeit „‘A Word Other than Crazy’: Exploring the Stigma around Mental Health through Young Adult Literature“ beschäftigte sie sich mit den Verbindungen zwischen populären Jugendtexten und deren sozial transformativem Potenzial. Die Autorin arbeitet als Projektmitarbeiterin für die Forschungsplattform #YouthMediaLife.
- Kligler-Vilenchik, Neta, Mcveigh-Schultz, Joshua, Weitbrecht, Christine and Chris Tokuhama. „Experiencing Fan Activism: Understanding the Power of Fan Activist Organizations through Members‘ Narratives.“ Transformative Works and Cultures 10 (2012). ↩
- Slack, Andrew. “Cultural Acupuncture and a Future for Social Change.” Huffington Post 2 July 2010. 12 May 2020. ↩
- Jenkins, Henry. „‘Cultural Acupuncture’: Fan Activism and the Harry Potter Alliance.“ Transformative Works and Cultures 10 (2012). ↩
- Jenkins, Henry, Gabriel Peters-Lazaro, and Sangita Shresthova. Popular Culture and the Civic Imagination: Case Studies of Creative Social Change. New York: New York UP, 2020. ↩
- Duncombe, Stephen. “Imagining No-place.” Transformative Works and Cultures 10 (2012). ↩
- Carriere, Kevin R. „‘We Are Book Eight’: Dialoging the Collective Imagination through Literary Fan Activism.“ Culture & Psychology 24.4 (2018): 529-44. ↩
- Kligler-Vilenchik, Neta. “‘Decreasing World Suck’: Harnessing Popular Culture for Fan Activism.” By Any Media Necessary: The New Youth Activism. Ed. Henry Jenkins, Sangita Shreshtova, Liana Gamber-Thompson, Neta Kligler-Vilenchik, and Arely M. Zimmerman. New York: New York UP, 2016. 102-148. ↩
- Global Education Goes POP. (platform created by Cazalla Intercultural, co-financed by the European Union´s Rights, Equality and Citizenship Programme). April 2020. ↩
- Südwind Entwicklungspolitik Steiermark. Global Education Goes Pop. Methodenhandbuch für die Jugendarbeit. Graz: Südwind Entwicklungspolitik Steiermark, 2020. ↩
- Booth, Paul J. „Fandom: The Classroom of the Future.“ Transformative Works and Cultures 19 (2015). ↩