Vor ein paar Wochen wurde ich eingeladen, einen Expert*innenbeitrag zum Thema Jugendliche und Lesen für die Website „Elternbildung“ zu schreiben. Die Redakteurin wollte vor allem Tipps, wie man Kinder und Jugendliche zum Lesen bringt, wenn diese lieber am Handy zocken. Eltern klagen oft, dass ihre Kinder und Jugendlichen zu wenig lesen, und der große Lesefeind scheinen die digitalen Medien zu sein. Hier entsteht eine Konkurrenz von digitalen Medien und dem Buch, die hinterfragt werden muss.
Zum einen steht das Kinder- und Jugendbuch ökonomisch sehr gut da und ist nach der Belletristik das erfolgreichste Segment. Die kleinsten Leser*innen bringen also oft die größten Gewinne. Zum anderen boomt seit ein paar Jahren, besonders stark während der Covid-Pandemie, die Beschäftigung mit Büchern auf sozialen Medien. TikTok und Instagram haben weit verbreitete Hashtags wie #booktok und #bookstagram, über die sogenannte Bookfluencer ihren bibliophilen Content verbreiten: sie empfehlen Bücher, zeigen ihre nach Farben organisierten Buchregale her, und drücken in Videos und Bildern ihre Emotionen gegenüber Büchern aus. Dass das kein nerdiges Nischenphänomen geblieben ist, zeigt sich daran, dass die Frankfurter und die Leipziger Buchmesse Events für und auf Sozialen Medien organisiert haben, und dass die größeren englischen Verlage seit einiger Zeit intensiv auf allen sozialen Medienkanälen Neuerscheinungen bewerben. Einige #booktok-Videos werden von Millionen Menschen gesehen und geliked. Dabei sind vor allem die Videos beliebt, in denen es um starke Emotionen beim Lesen von Jugendromanen geht, mit Aussagen wie: „This book killed me“ oder „Dieses Buch hat mich zerstört“. Aber auch Beiträge, in denen man Booktokern beim Ordnen ihrer Bücher oder beim „book-tabbing“ zuschaut, also dabei, wie sie passende Klebenotizen auswählen und damit ihre Bücher annotieren, sind sehr im Trend. Die Emotionalisierung und Ästhetisierung von Lesen sind zwei aktuelle Phänomene, die sich mit allgemeineren Trends in der Jugendkultur in Verbindung bringen lassen, und die mich besonders interessieren.
Was bedeuten diese Phänomene für mich als Literaturwissenschaftlerin und Literaturdidaktikerin? Unter dem Titel #bookish setze ich mich gerade mit der faszinierenden Bandbreite an unterschiedlichem Buch-Content auseinander und hoffe, daraus ein größeres Projekt entwickeln zu können. Mein literaturwissenschaftlicher Zugang hilft dabei zu verstehen, wie Leser*innen gemeinsam versuchen, einen Text auf unterschiedliche Weise zu verstehen. Spezielle Methoden, die für multimodale und digitale Texte entwickelt wurden, geben mir ein Instrumentarium für ein Verständnis der speziellen Bedeutungskonstruktion auf sozialen Medien. Wie bei jugendlichen Medienpraktiken insgesamt ist auch ein sinnvoller wissenschaftlicher Umgang mit diesem Phänomen nur durch interdisziplinäres Arbeiten in Teams möglich. So können auch quantitative Ergebnisse eingeholt, Verbindungen zu informatischen Fragestellungen diskutiert, und sprachliche Besonderheiten dieser Inhalte analysiert werden.
Die Konkurrenz zwischen Buch und digitalen Medien muss also kritisch hinterfragt werden: junge Menschen lesen ihre Bücher oft am Handy, oder sie kaufen besonders schöne Ausgaben ihrer Lieblingsbücher und stellen davon Videos her, die sie über soziale Medien verbreiten und damit an einem Diskurs über das Bücherlesen (und -besitzen) teilnehmen. Diesen Diskurs gilt es vor allem als Lehrer*innenbildnerin besser zu verstehen, um einen informierteren Zugang zur Bedeutung von Literatur, Büchern und Texten für Jugendliche heute zu entwickeln. Watch this space, ich schreibe bald mehr dazu!
Susanne Reichl ist Professorin für Englische Literatur der Gegenwart am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien. In ihrer Forschung und Lehre befasst sie sich vor allem mit zeitgenössischer britischer Literatur, Kinder- und Jugendliteratur, Zeitreisegeschichten, Literaturdidaktik und Social Reading-Phänomenen. Die Autorin ist Leiterin der Forschungsplattform #YouthMediaLife.